Editorial

Der NATO-Kriegswille und die wachsende Verintellektualisierung der Anthroposophie

Niemand, der das Ergebnis der NATO-Gipfelkonferenz in Wales vom 5./6. September mit Wirklichkeitssinn zur Kenntnis nahm, wird sich Illusionen über den wahren Charakter dieses nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Auflösung des Warschauer Paktes eigentlich überflüssig gewordenen westlichen Bündnisses machen: Die NATO ist heute ein US-Interessen dienendes europäisches Söldnerheer, ein offensichtliches Angriffs-Bündnis, welches seine wirtschaftlichen und geopolitischen Ziele mit einer beispiellos verlogenen Kampagne zum Aufbau des «Feindbilds Russland» zu rechtfertigen sucht. Eine «schnelle Eingreiftruppe», allen demokratischen Kontrollinstrumenten der Mitgliedsstaaten entzogen, hat nichts mit Friedensförderung zu tun. Ebenso wenig wie neue Sanktionen gegen Russland – schon gar nicht zum Zeitpunkt russisch-ukrainischer Friedensverhandlungen. Europa hat sich praktisch widerstandslos dem westlichen Joch einer unwürdigen Fremdbestimmung gefügt, welches seine historische Vermittlerrolle zwischen West und Ost nur erwürgen kann. Dass selbst die «neutrale» Schweiz auf Druck der USA einen von Außenminister Burkhalter bestimmten, fähigen Vermittler im Ukraine-Russland-Konflikt (Tim Gulidmann) abberief, gereicht  diesem Land zur historischen Schande.
So wie vor 100 Jahren ein völlig unangegriffenes Russland (durch britische und französische Kräfte getrieben) einen zerstörerischen Kriegswillen nach Westen entfaltete, so tut das gegenwärtig das US-Marionettenheer der NATO in Richtung Osten. Die Menschheit scheint in 100 Jahren lediglich gelernt zu haben, die Aggressionsrichtung um 180 Grad zu ändern.

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Nicht weniger erbärmlich ist die zunehmende Verintellektualisierung der Anthroposophie, welche sich gegenwärtig unter aktivem Mittun oder passivem Beifall zahlreicher «Anthroposophen» vollzieht. Sie wurde bereits von der Seele Helmuth von Moltkes als Tendenz erlebt, wie folgende Post-mortem-Imagination Moltkes vom 26. Oktober 1920 zeigt: «Das nächste Schicksal der ‹geistigen Bewegung› wird sein, dass sie wie ein gerupftes Hühnchen dastehen wird. Man wird ihr alle Federn ausreißen.»

Die damit gemeinte Anthroposophie ist ein Lebewesen; mehr noch: ein Lebewesen mit der Kraft, sich über das rein Irdische zu erheben. Diesem Wesen wird das Leben und zugleich die immanente Flugkraft geraubt, wenn es auf dem Hintergrund neuester Computertechniken intellektualistisch «ausgeschlachtet» wird. Statt sich durch wirkliche Anthroposophie gedankenmächtig zum lebendigen Geist zu erheben, werfen mehr und mehr Menschen, nachdem sie anthroposophische Substanz für ihr persönliches Leben, ja oft für ihre berufliche Tätigkeit und ihre wissenschaftliche Karriere reichlich ausgeschlachtet haben, nur noch mit toten Hühnerknochen um sich. Ein symptomatisch-erschütterndes Beispiel dafür war eine diesjährige Tagung in Alfter (siehe den Bericht auf S. 34 ff.)

Dank
Ein besonderer Dank geht in diesem Monat – außer an alle Menschen, die durch ihr Abonnement die Zeitschrift tragen helfen – an jene Abonnenten, welche ihre Beiträge aufgerundet haben, seit wir im Juni auf einen ernsten Finanzengpass aufmerksam machten. Dank mancher weiterer Spenden und zwei sehr großzügigen Einlagen konnte das Bestehen des Europäers für den nächsten Jahrgang gesichert werden.* Wir sehen darin einen erfreulichen und keineswegs selbstverständlichen Beweis dafür, dass die Existenz dieser Zeitschrift nicht bloß dem Wunsch eines kleinen Redaktionsteams entspricht. Für alle diese Manifestationen objektiver Wertschätzung unserer Arbeit bedankt sich mit seinen Redaktionskollegen sehr herzlich

Thomas Meyer

*    Nach mittelfristigen Lösungen auch für die übrigen Perseus-Aktivitäten – Buchpublikationen, Forschung, engl. Ausgabe der Zeitschrift, Veranstaltungen etc. – wird weiterhin gesucht.