Diesmal konnte ich dem knalligen schweizerischen Nationalfeiertag glücklich entfliehen. Die Eidgenossen – einst conspirati genannt, Schwurleistende auf den alten Geistesbund, – begannen in der Ferne zu entschwinden. Neue Horizonte öffneten sich. Finnland hieß den Reisenden willkommen. Erste gute Nachricht: Finnland ist nicht in der NATO, im Gegensatz zu Norwegen und Dänemark. 70% der Bevölkerung sind dagegen, auch wenn die Regierung immer wieder Versuche macht. Nördlich des 60. Breitengrades herrscht ein anderes Klima, auch ein anderes Geistesklima. Von verschiedener Seite wurde ich auf das Kalevala angesprochen, das große Epos der Finnen. Es hat einen weiteren Zeitradius als alle anderen europäischen Mythen. Es reicht zurück bis in die hyperboräische Zeit, als die Sonne noch in der Erde war. Als noch keine Geschlechtertrennung waltete und ein reiner Sonnenimpuls herrschte. Die Griechen wussten, dass ihr Sonnengott Apollo im Winter die hyperboräischen Regionen aufsuchte, die man weder zu Schiff noch zu Lande erreichen konnte. Delphi war ein Ableger der ursprünglichen nordischen Mysterien.
Bei dieser Geistesweite lässt sich besser atmen. Kein Zufall, dass der Finne Pekka Ervast Rudolf Steiner zum Hierarchien-Zyklus nach Helsinki einlud (GA 136). Er schrieb später das Werk «Der Schlüssel zur Kalewala» und verfasste ein Stück über H.P. Blavatsky, das zum 100. Geburtstag von H.P.B. 1931 in Helsinki aufgeführt wurde. Blavatsky ist zweifellos die spirituell bedeutendste Persönlichkeit im Vorfeld des Wirkens Steiners.
Ein mehrtägiges Seminar mit aufmerksamsten Teilnehmern – darunter eine ganze Anzahl Lehrer – widmete sich in der Waldorfschule von Helsinki dem Impuls und der Welt der Philosophie der Freiheit, in vielen Schattierungen. War es doch das Werk, von dem Steiner sagte, dass es Jahrtausende überdauern würde.
Zum Abschied erhielt ich ein zauberhaftes Geschenk von farbigen Filzfiguren aus der Mariatta-Episode des Kalevala. Herzerwärmend, wie alles, was jenseits des kalten Boreas-Windes im hyperboräischen Lande liegt…
Am Sonntag der Abfahrt durfte ich im Zweig über den zweiten Vortragszyklus Steiners in Helsinki sprechen. Ich beschränkte mich auf die darin in einzigartiger Weise geschilderte «Perle des Hellsehens», welche das Ende der alten Hellsichtigkeit wie auch den besten Beginn des neuen, modernen Hellsehens darstellt (GA 146).
Finnland birgt eine große Vergangenheit, aber auch eine große Zukunft. Möge es allen Erstickungs-, Erkältungs- und Geist-Verdumpfungskräften widerstehen!
An der Grenze zu Russland wurde kein Gepäck untersucht – außer das Geschenkpaket mit den Mariatta-Figuren. Und der Zollbeamtin, die vielleicht Devisen oder Kokain witterte, entrang sich ein leises Lächeln.
Die erste Frage richtete ich an den Taxifahrer auf dem Weg zum Hotel: «Was halten Sie von Putin?» Die salomonische Antwort war: «Besser als Jelzin.»
Petersburg war voller Touristen. Ich nahm Zuflucht im wenig besuchten Dostojewski-Museum, das hervorragend und sorgfältig ausgestattet ist. Das einzige große Gemälde war der Basler Holbein: der Leichnam Christi. So stark ist der Roman Der Idiot hier verwurzelt, in dem das ausnehmend hässliche Gemälde eine große Rolle spielt; auch noch Lenin war davon fasziniert, als er 1916 Basel besuchte.
Der Jussupow-Palast war eine Überraschung, voller Kostbarkeiten, mit einem zweistöckigen Theater im Palastinneren, einem Konzertsaal und Gemäldegalerien. Im ausgedehnten Kellergeschoss, wo einst die Junggesellenwohnung des reichen Fürsten lag, lud dieser im Dezember 1916 Rasputin zu einem Nachtmahl ein. Shakespearsche Szenen. Das Zyankali wirkte nicht. Umsonst erschoss ihn Jussupow. Schließlich feuerte der britische Geheimdienstoffizier Oswald Rayner den Gnadenschuss ab. All dies ist im Text zur Ausstellung offen vermerkt. Rasputin war das große Hindernis für die britischen Intentionen, das sozialistische Experiment durchzuführen und die Zarenfamilie zu liquidieren. Prophetisch sind die Worte Rasputins: «Ich fürchte nichts für mich selbst, aber ich fürchte für das Volk und die königliche Familie, denn wenn man mich tötet, wird das Volk leiden und der Zar wird verschwinden.»
So erhaben die Gesinnung des Kalevala ist, so niederträchtig die Liquidierung Rasputins.
Eine versöhnliche Note erklang plötzlich in der Eremitage, im Raum der Rembrandt-Werke. Ich blieb wie gebannt stehen, weniger wegen der Masse von Leuten als wegen der Ausstrahlung des Gemäldes vom «Verlorenen Sohn». Ist nicht jeder Mensch ein verlorener Sohn, der aus allen Irrungen herausfinden kann und vom «Vater» deshalb besonders geliebt wird?
In Zarskoje Selo führte ich schließlich ein Gespräch mit einem russischen Verlegerehepaar, von dem noch die Rede sein wird. Vor einer Plastik mit dem Namen «Perseus». Die Sterne wölbten einmal mehr den Horizont.
Thomas Meyer