Editorial Europäer Juli/August 2012
In Mai dieses Jahres wurden in den großen Tageszeitungen, durch Radiosendungen, auch im Spiegel, Würdigungen des Philosophen Robert Spaemann gebracht, aus Anlass zu dessen 85. Geburtstag. Es wurde Spaemanns umfassender Horizont, seine Freigeistigkeit wie seine Verankerung in der geistigen Welt der katholischen Kirche gleichermaßen hervorgehoben. Diese Charakteristika sprechen auch aus seiner jüngsten Publikation Über Gott und die Welt – eine Autobiographie in Gesprächen*. Spaemann stand dem letzten polnischen Papst persönlich nahe und steht auch mit dem jetzigen in freundschaftlicher Verbindung.
Er ist ein Kenner und Schätzer sowohl der Philosophie des Aristoteles wie der von Thomas von Aquin. Dass er auch ein Kenner und – bis zu einem gewissen Grade – Schätzer Rudolf Steiners ist, blieb in den Würdigungen und auch von Spaemann selbst unerwähnt.
Robert Spaemann gab 1983 zusammen mit dem zum Katholizismus konvertierten früheren Anthroposophen und Staatsrechtler Martin Kriele das vierbändigen Tarotwerk des ebenfalls katholisch gewordenen einstigen Anthroposophen Valentin Tomberg heraus, welches auch von Papst Johannes Paul I. studiert worden ist.** In seinem Vorwort hob Spaemann anerkennend hervor: «Vor allem liegt dem Verfasser [Valentin Tomberg] am Herzen, die eine Kirche, die Kirche der Apostel, die Kirche des menschgewordenen Gottes allen Weisheitssuchern, Hermetikern, Theosophen, Anthroposophen, als ihren wahren geistigen Lebensraum zu erschließen, als die eigentliche gei- stige Heimat, von der sie, ob sie wollen oder nicht – täglich leben und ohne deren Gebete und Sakramente, die Wirklichkeiten, um die es ihnen geht, aus unserer Welt vollständig verschwinden müssten.» Spaemann ist nicht der einzige Kenner der Anthroposophie, der sie der Obhut der einen Kirche unterstellt wissen will und den anthroposophischen Impuls damit – nolens volens – in seiner ureigenen Wirksamkeit sabotieren muss. Eine heute mit Verschweigen arbeitende Gegnerschaft, die ernster zu nehmen ist als die lärmige Trivialopposition von Leuten wie Helmut Zander.
Der US-Präsidentschaftskanditat Mitt Romney hat welt- anschaulich Wurzeln bei den Mormonen, einer materia- listisch ausgerichteten christlich-fundamentalistischen Sekte mit Hauptsitz in Salt Lake City. Das diesjährige Bilderbergtreffen (Ende Mai) fand in einem Marriott-Hotel in Virginia statt. Diese Hotelkette wurde vom Mormonen J. Willard Marriott begründet. Für manche ein Hinweis auf Romneys kommende Präsidentschaft.
Die in Salt Lake City beheimatete mormonische Brigham Young University verwaltet auf ihrem Server eine von Dr. Christian Clement erstellte, weitgehend vollständige online Steiner-Ausgabe. *** Clement hatte in Utah über Die Geburt des modernen Mysteriendramas aus dem Geiste Weimars dissertiert und arbeitet derzeit an der Herausgabe einer kritischen Steiner- Ausgabe im nicht-anthroposophischen Stuttgarter Verlag Frommann-Holzboog. Er besitzt einen Lehrauftrag an der Brigham Young University für German Literature und ist gleicherweise von Steiner wie von der «Mysterienkultur» der Mormonen fasziniert.
Anthroposophie und Mormonentum? Eine – unter mormonischer Präsidentschaft? – sich anbahnende neue Allianz? Sie würde jene von Kirche und «Anthroposophie» noch in den Schatten stellen.
Thomas Meyer
* erschienen bei Klett-Cotta.
** Die großen Arcana des Tarot, Herder, Basel 1983.
*** http://anthroposophie.byu.edu