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Borniertheit, Herzlosigkeit und Goethes Faust

Man könnte sprachlos werden, wenn man die Orgien phrasenhafter Borniert-
heit, selbstsüchtiger Herzlosigkeit und unverhohlener Brutalität miterlebt, die
gegenwärtig mit viel Lärm das internationale Weltgeschehen beherrschen und
Abermillionen von Menschenseelen in ihren Strudel ziehen. Um auf solchen
wilden Wogen des Zeitgeschehens nicht mutlos, sentimental, zynisch, stumpf
oder gedankenlos zu werden, gibt es verschiedene Wege. Einer ist, sich von Zeit
zu Zeit in jene großen Dichtungen der Menschheitsgeschichte zu vertiefen,
die nicht nur Zeugnis ihrer eigenen, manchmal ähnlich turbulenten Epoche
ablegen, sondern die auch auf ein höheres Weltgebiet unzerstörbarer Werte auf-
merksam machen können. Solche Dichtungen sind aus reichster Lebenserfah-
rung geschöpft und zugleich aus einer höheren Welt heraus inspiriert worden.
Wer wollte bezweifeln, dass beides in hohem Maß bei Goethes Faust der Fall
ist? Wir werden daher in der Weihnachtsnummer eine längere Betrachtung
zum Faust veröffentlichen.
Was kann uns Goethes Faust heute sagen? Im Folgenden sei ein Motiv her-
ausgegriffen, das gerade in der heutigen Zeit allerhöchste Beachtung verdiente:
Die Auseinandersetzung mit dem Bösen auf seinen drei Erscheinungsebenen.
Denn Goethe lässt das durch Mephistopheles repräsentierte Böse auf drei
verschiedenen Seinsebenen auftreten: auf einer metaphysischen, einer psychischen
und einer übersinnlich-gegenständlichen Ebene.

T.H. Meyer


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