Srebrenica und kein Ende
Am 23. Mai 2024 nahm die UNO-Generalversammlung eine Resolution an, durch die der 11. Juli, der Tag an dem 1995 das Massaker von Srebrenica (Bosnien) stattgefunden hatte, zu einem Tag der „Erinnerung und Reflexion“ über den damals begangenen (angeblichen) „Völkermord“ bestimmt wurde. Diese Resolution wurde gemeinsam von Deutschland und Ruanda eingebracht. Sie war heftig umstritten und stieß nicht zuletzt bei Serbien, wo man das Volk der Serben dadurch an den Pranger gestellt fühlte, auf starken Widerstand und große Verärgerung. Die Resolution wurde mit 84 Ja-Stimmen bei 19 Nein-Stimmen und 68 Enthaltungen angenommen. Eine ganze Reihe von Staaten blieb zusätzlich der Abstimmung fern. Das war weit entfernt von jener Einstimmigkeit, die gewöhnlich bei solchen Abstimmungen angestrebt wird.
Man fragt sich, warum die deutsche Regierung sich ohne jegliche Not zum Vorreiter einer so desaströsen und prekären Resolution gemacht hat. Srebrenica mag ein schlimmes Massaker gewesen sein, aber das ist noch kein Völkermord. Warum hat man das von Deutschland aus vorgebracht? Vielleicht weil jede Anklage eines Völkermords anderswo eine gewisse Entlastung für einen selbst bedeutet, der man mit der Hitler-Vergangenheit geschlagen ist? Oder, um der islamischen Welt einen Fleischbrocken hinzuwerfen und dadurch das so umworbene Israel zu entlasten, das wegen seines Vorgehens in Gaza überall mit dem Völkermordvorwurf konfrontiert wird?
Die Außenpolitik der jetzigen Regierung zeigt in ihrer Verblendung wohl in manchem Ähnlichkeit mit derjenigen Hitlers: sie versucht Deutschlands Stellung in der Welt nicht nur für die Gegenwart, sondern auch möglichst weit in die Zukunft hinein unmöglich zu machen. Nicht nur, dass sie Freundschaften da sucht, wo sie letztlich nicht zu finden sein werden, sondern auch, dass sie da, wo sie vielleicht zu finden wären, alles tut, um sie auf lange hinaus unmöglich zu machen.
Tatsächlich gibt es ja bis heute jedes Jahr in Srebrenica um den 11. Juli, den Tag des Massakers, große Gedenkfeiern, die auch in den europäischen Medien regelmäßig gewürdigt werden. Dass diese Gedenkfeiern zur „Versöhnung“ beitragen würden, wird man allerdings schwerlich behaupten können. Sie betonen die Muslime als „Opfer“ und die Serben als „Täter“ und schreiben damit immer von Neuem eine Sicht auf Bosnien und den bosnischen Bürgerkrieg fort, wie sie ja seit 1992 konstant von den weltbeherrschenden Medien gefördert wurde. Die Erinnerung an das Massaker mag aus Sicht der Angehörigen der Opfer ihren Sinn haben. Und auch für die Nachfahren der Täter mag es sinnvoll sein, sich daran zu erinnern, zu was für schrecklichen Exzessen man sich hat hinreißen lassen, als man meinte, eine gerechte Sache zu verfolgen. Dass die „Erinnerung“ aber politisch eine wichtige Funktion hätte, wird man wohl bestreiten können: die Erinnerung an dieses Massaker setzt eigentlich ein „Irrlicht“ der Erinnerung, das es erschwert, einen nüchterneren, wirklichkeitsgemässeren und versöhnlicheren Blick auf die Ereignisse um die Auflösung Jugoslawiens zu werfen. Die Erinnerung an Srebrenica steht für eine falsche, unsinnige Sicht auf den bosnischen Bürgerkrieg.
Das große Paradox in der Sicht auf die Ereignisse des jugoslawischen Zusammenbruchs ist es ja, dass diejenigen, die zusammenbleiben wollten, die „Serben“, wenn man das so pauschal sagen kann, bzw. die Republik Serbien, zu den eigentlichen Schuldigen des Auseinanderbrechens erklärt wurden, zu den Monsterverbrechern, „Völkermördern“, Ultranationalisten. Immerhin war die Republik Serbien die einzige der jugoslawischen Teil-Republiken, in der kein Referendum über einen Austritt von Jugoslawien stattfand. Und es war auch Serbien, das am Namen Jugoslawien festhielt, so lange bis ihm das verboten wurde. Das heißt, man hielt an der Idee einer übernationalen Völkergemeinschaft fest.
Der bosnische Bürgerkrieg 1992 entstand, als in dem Land ein Unabhängigkeitsreferendum durchgeführt worden war, das eine eindeutige Mehrheit für die Unabhängigkeit von Jugoslawien gebracht hatte: für die Unabhängigkeit stimmten in großer Mehrzahl die bosnischen Muslime und Kroaten, dagegen war der überwältigende Teil der bosnischen Serben. Dafür waren die bosnischen Kroaten, weil sie vom alten Jugoslawien wegwollten, um sich irgendwann mit dem neu entstandenen Kroatien vereinigen zu können; dafür waren die bosnischen Muslime, weil sie darauf zählten als bevölkerungsstärkste Gruppe eine führende Position in einem bosnischen Staat einzunehmen, der dann vielleicht irgendwann auch zu einer islamischen Republik werden könnte. Der Bürgerkrieg in Bosnien war, nach den vorherigen Ereignissen um die kroatische Unabhängigkeit 1991, leicht vorherzusehen und ist von vielen vorausgesagt worden. Die EU versuchte ihn in einer letzten Vermittlungsaktion durch eine Art Kantonalisierung des Landes zu verhindern, wurde aber dann von den USA torpediert, deren Botschafter Zimmermann dem Muslimenführer Izetbegovic riet, seine Unterschrift zu diesem Arrangement wieder zurückzuziehen, um auf einen funktionsfähigen bosnischen Gesamtstaat zu setzen. Das bedeutete Krieg.
Der Bürgerkrieg war dann zunächst und vor allem eine Art nationaler Befreiungskrieg der bosnischen Serben, die nicht in einem muslimisch majorisierten bosnischen Gesamtstaat leben wollten, sondern dann wenigstens die Vereinigung eines bosnischen Rumpfserbiens mit dem damaligen Rest-Jugoslawien wollten. Das führte zu Kämpfen darum, ein solches Rumpfserbien überhaupt einmal territorial irgendwie zu arrondieren. Die Hauptcharakteristika des Krieges von serbischer Seite waren: 1) Arrondierung eines zusammenhängenden serbischen Gebiets, wozu ethnische Säuberungen durchgeführt; 2) Versuch, die bosnische Regierung (und den „Westen“) dazu zu bringen, das Recht der Serben auf Sezession anzuerkennen, ihr Konzept eines bosnischen Gesamtzwangsstaates aufzugeben. Hätte Izetbegovic das zweitere zugegeben, hätte er auf den bosnischen Gesamtstaat Verzicht geleistet, wäre der Krieg wohl relativ schnell zu beenden gewesen. Die Absicht der Serben in Bosnien war im Kern nicht genozidal, sondern sezessionistisch. Sie wollten die bosnischen Muslime nicht umbringen, sondern sich von ihnen trennen.
Anfangs war die serbische Bauernarmee in Bosnien weit überlegen, weil sie die Waffenlager der jugoslawischen Armee übernommen hatte. Das erklärt das Missverhältnis der Opferzahlen in diesem Krieg. Izetbegovics stärkste Kriegswaffe waren zunächst Opfer unter der Zivilbevölkerung, welche Empörung wecken und den Westen Richtung Intervention treiben sollten. Deshalb gab es immer Zweifel, ob irgendwelche Massaker tatsächlich von den bosnischen Serben durchgeführt wurden oder selbstinszeniert waren.
Aber es soll hier nicht darum gehen, die zweifellos – nicht zuletzt, aber nicht nur, von den Serben – entsetzliche Kriegsführung in Bosnien zu rechtfertigen, sondern es geht zunächst einmal darum, diesen Krieg überhaupt wieder „lesbar“ zu machen, zu verstehen, worum es eigentlich ging. Dem leistet die Srebrenica-Erinnerungskultur, die dieses einzelne Massaker so heraushebt, zweifellos einen Bärendienst. Sie stellt das ganze so dar, als ob es hier um die brutale Misshandlung einer Gruppe durch eine andere gegangen wäre. Sie suggeriert, dass es hier um einen brutalen serbischen Eroberungskrieg gegangen wäre, während es in Wirklichkeit um eine Lostrennung, mithin eine Art Verteidigung ging. So wie ja auch heute die Republika Srpska, die serbische Teilrepublik in Bosnien, nicht die Oberherrschaft über den Gesamtstaat anstrebt, sondern sich selbst so viel als möglich Unabhängigkeit von diesem zu erhalten bzw. zu verschaffen versucht.
Nach heutigem Wissensstand müsste man wohl sagen: es war ein entscheidender Fehler, 1992 in Bosnien ein Unabhängigkeitsreferendum abzuhalten bzw. dieses international anzuerkennen. Tatsächlich gab es ja 1991 einen Teilungsplan für Bosnien zwischen dem neuen Kroatien und Rest-Jugoslawien. Dieser Tudjman-Milosevic-Plan, der seinerzeit als eine Art Neuauflage des Hitler-Stalin-Pakts verdammt wurde, hätte dem Land und seinen Bewohnern wohl vieles erspart. Wenn ab jetzt jedes Jahr die Weltgemeinschaft am 11.Juli über Srebrenica „reflektiert“, so wäre es wohl gut, sie würde auch darüber einmal nachdenken.