Editorial, News

Vom West-Ost-Kongress zum «neuen» West-Ost-Konflikt

Vor genau hundert Jahren fand der über 10 Tage dauernde, von Rudolf Steiner ini- tiierte West-Ost-Kongress in Wien statt. Er wurde durch Ludwig Polzer-Hoditz am 1. Juni 1922 eröffnet. Die Namensgebung erfolgte auf Anregung von W.J. Stein, einem Wiener Schüler Steiners. Behandelt wurde das Verhältnis der Geisteswissenschaft zu Naturwissenschaft, Psychologie und Geschichtswissenschaft; ferner die soziale Frage. Der Schlussvortrag vom 11. Juni stellt das letzte öffentliche Eintreten Steiners für die Idee der Dreigliederung dar.
Steiner zeigt auf, wie man aus Phrase, Konvention und Routine herauskommen könne und stellt abschließend fest: «Erst wenn man einsehen wird, dass der dreigegliederte Organismus notwendig ist, um Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zu schaffen, dann wird man die soziale Frage in der richtigen Weise gestalten.»
Der Kongress war der größte äußere Erfolg des öffentlichen Wirkens Steiners. 2000 Hörer folgten Abend für Abend im Musikvereinsgebäude den Ausführungen, zu denen auch Vorträge profilierter Schüler wie musikalische Beiträge und Eurythmie-Aufführungen gehörten. Viel Wiener Prominenz, darunter nach Stein auch Jesuiten, war da.
Ludwig Polzer hatte im Vorfeld seine von Steiner sehr positiv aufgenommene Schrift Das Testament Peters des Großen erscheinen lassen. Er zeigte darin auf, wie seit dem 17. Jahrhundert Impulse wirksam wurden, die den Osten in den Dienst und die Abhängigkeit anglo-amerikanischer Gruppen stellten.1
Eugen Kolisko sah in Polzers Schrift «eine bedeutende Offenbarung für symptomatische Geschichtsforschung» und «den Anfang für eine zeitgemäße Betrachtung der Weltgeschichte». Polzer sagte von dem Buch: «Es sollte mein Beitrag zum Kongresse sein.»
Um den Kongress nachhaltig wirksam zu machen, gründete Polzer mit Hilfe Steiners eine Halbmonatszeitschrift: Anthroposophie – Österreichischer Bote von Menschengeist zu Menschengeist.
Die erste Ausgabe konnte im November 1922 erscheinen.
Fast zeitgleich dazu erschien im selben Wien das große Gegenbild der Dreigliederungsbewegung und der Anthroposophie: die durch Graf Coudenhove-Kalergi lancierte Idee von Paneuropa, die ein «Europa» unter Ausschluss von Russland (!) vorsah. Coudenhove wurde bald ein vom Hochgradfreimaurer Churchill protegierter Vorbereiter der Vereinigten Staaten von Europa, die nach Churchills eigenen Worten die «Schaffung einer autoritativen, allmächtigen Weltordnung als Endziel» bezwecken sollten.
«Kaum hat Rudolf Steiner nach dem letzten Aufruf zur Verwirklichung der Dreigliederung in Europa das Musikvereinsgebäude ein für alle Mal verlassen», schrieb ich in meiner Polzer-Biografie, «zieht Richard Coudenhove-Kalergi mit seinem unheilvollen Paneuropawahn in die Wiener Hofburg ein», bald unterstützt vom ältesten Sohn von Kaiser Karl, Otto von Habsburg. «Und während Coudenhove rasch Lob und Unterstützung findet, erntet Steiner nicht zuletzt gerade durch sein letztes öffentliches Wiener Wirken allerschärfste Gegnerschaft. Wozu die letztere fähig war, sollte sich noch vor dem Ablauf des Jahres 1922 in fürchterlichster Weise zeigen»2 – gemeint ist der Brand des ersten Goetheanumbaus in der Silvesternacht.
In Bezug auf den Osten zeigt sich also vor hundert Jahren ein bedeutender Auftakt zu einer gesunden sozialen Neu-Ordnung, und ein zeitgleich einsetzendes scharfes Wirken der anti-anthroposophischen anglo-amerikanischen (und römischen) Politik. Diese weiß um die Zukunft des slawischen Kulturkeimes und will diesen partout unter ihre Machtherrschaft bringen. Darum dreht es sich auch im Ukraine-Konflikt. Die Europäer, vorab die Staats-Deutschen, heute dicht gefolgt von den offiziellen Schweizern, haben die spirituelle Realität dieser westlichen Politik vollkommen verschlafen.
Das Testament Peters des Großen steht der Erfüllung nahe wie noch nie. Doch es wird entschlossen weiter geschlafen.
Die Welt applaudiert, wie 1922 dem zeitweiligen Freimaurer Coudenhove, heute lieber Wolodimir Selenski, der die Hauptrolle in der gegenwärtigen publizistischen Schmierenkomödie um die ukrainische Kriegstragödie spielt. Ein düsteres Zeichen der Zeit.

Thomas Meyer

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1 Diese Impulse haben im Ukraine-Konflikt ihren heutigen Höhepunkt erreicht.

2 Siehe T. Meyer, Ludwig Polzer-Hoditz – Ein Europäer, Kap. 28: «Der West-Ost-Kongress und Paneuropa».