1989 war ein deutsches Schicksalsjahr. Niemand sagte im Jahrzehnt vorher ernstlich eine Wende voraus. Die Zeit prognostizierte eine jahrlange Wartezeit auf eine innerdeutsche Veränderung.
1982 allerdings stimmten sich Präsident Reagan und Papst Woityla in Rom bereits auf eine West-Ost-Veränderung in Rom ab. Sieben Jahre später war es dann soweit.
Wegbereiter im Westen wurde das vom Anwalt Rolf Henrich im Osten geschriebene Buch Der vormundschaftliche Staat – Das Ende des Sozialismus. Das Buch wurde bei seinem Erscheinen in Hamburg eine Sensation. Für Wendeplaner in den Fußstapfen von Reagan und Woityla auch eine besondere Befürchtung: die Verwirklichung des im Anhang skizzierten Gedankens der Dreigliederung des Sozialen Organismus Rudolf Steiners.
Die dadurch ausgelöste öffentliche Debatte wirkte beunruhigend und beschleunigend auf den Vereinigungsvorgang und erwürgte den organischen Prozess. Dienste in Ost und West suchten auf Henrich Einfluss zu nehmen. Niemand sollte vorantreiben, was sie bereits in Regie genommen hatten: Marktwirtschaft im neuen Gesamt-Deutschland, keine gesellschaftliche Alternative!
Es vollzog sich im Herbst 1989 im Eiltempo die deutsche Vereinigung. Bis zur letzten Minute wankte das Datum. Erst der 8. November, dann offiziell der 9. November. Das geschah mit unheimlicher Präzision. Denn der 9. November war schon zuvor ein deutscher Schicksalstag. Und zwar gewöhnlich in zwielichtigem Sinne.
Man braucht nur einige Termine zu nennen: 9. November 1938 (Reichskristallnacht); 9. November 1923 (Hitlers Marsch auf die Münchner Feldherrnhalle). So reiht sich der 9. November 1989 an unheilvolle Tage an.
Aber nicht nur! Nach einem Gespräch Rudolf Steiners mit Johanna Gräfin von Keyserlingk ist der 9. November auch ein bedeutender Faust-Tag, der Tag, an dem Faust den Gang zu den «Müttern» antritt, der Tag, der zu den Urgründen des Geistes führt.
Welche Richtung an diesem Tage eingeschlagen wird, hängt vom Menschen ab.
Auch im anthroposophischen Schrifttum gibt es einen bedeutenden 9. November: der 9. November 1924: An diesem Tage verfasste Rudolf Steiner den gewichtigen Brief «Michaels Mission im Weltenalter der Menschenfreiheit», heute vor exakt 100 Jahren. Charles Kovacs schildert ihn als «besonders schwierig» und «geheimnisvoll». Er berührt das heute so profanierte Geheimnis der Geschlechtlichkeit und seiner schützenden Kräfte. Wie sie benutzt werden, hängt vom Menschen ab.
T.H. Meyer