Editorial, News

Feige und grausam in der Wüste

Ubuesk!! Das bedeutet laut Wörterbuch, wie in einem früheren Editorial berichtet, zugleich «feige und grausam». Der Ausdruck stammt vom Jugendstück «Ubu Roi» des Franzosen Alfred Jarry (1873–1907). Das Stück stand am Ausgangspunkt des absurden Theaters. Es ist das Stück unserer eigenen absurden Zeit – feige und grausam.
Die Feigheit bezieht sich heute auf das Nicht-Erkennen-Wollen der geistigen Hintergründe der Zeitlage, die Grausamkeit ist deren Folge – Nicht-Erkennen-Wollen macht grausam.

Im Folgenden einige kürzlich erlebte Episoden, die diesen Grundcharakter der heutigen Zeit en miniature zeigen.
In Dresden war im Frühstücksraum ein Schild neben dem Tisch: «Bitte tragen Sie außerhalb des Tischbereichs eine Maske». Darunter das Bild einer solchen und:
«Danke für Ihr Mitmachen». Ich musste dem Drang widerstehen, aus dem zweiten m ein l zu machen und auf das Schild zu malen; die maskierten Gäste sahen aber nicht danach aus, als ob sie Humor verstünden. Humorlosigkeit – auch eine Folge der Ignoranz und Grausamkeit.
Im ICE wurde Akzeptanz der Maskenbefreiung offiziell gewährleistet. Alle Schaffner respektierten das. Aber die Chefin des Speisewagens verweigerte selbstherrlich die Bedienung eines Maskenlosen.
Vor einem Natura-Laden die Aufschrift: «Abstand – die neue Nähe». Wer, der sein Denken noch in der Nähe hat, kann sich bei diesem Ausdruck etwas denken?
Dummheit – auch eine Begleiterin von Feigheit, Ignoranz und Grausamkeit.
Wieder in der eigenen Stadt: Verweigerung, auf der Terrasse eines Park-Restaurants einen Imbiss einzunehmen. Mit dem Kassier erst harziges Zwiegespräch. Dann gibt er sich als Zweifler am Sinn der Maßnahmen zu erkennen. Schließlich zitiert er zu meiner Verblüffung Konfuzius, der gesagt habe, ein Glas solle immer nur halb voll sein und für etwas Neues Platz lassen. Sonst könne man nichts mehr lernen! Ich revanchiere mich mit dem Hinweis auf Sucharit Bhakdi und die Webseite uncutnews. Der Kassier notiert beides und reicht mir zum Abschied die Hand.
Die oben skizzierte absteigende Hierarchie der mentalen und seelischen Untugenden könnte natürlich ad infinitum vervollständigt und auch modifiziert werden. An der Spitze jedenfalls: Erkenntnis-Feigheit und bornierte Ignoranz, dann soziale Grausamkeit, Dummheit und Humorlosigkeit. Dennoch zwischendurch Oasen von Intelligenz und Freundlichkeit. So in Dresden, dem Ort der großartigen Sixtinischen Madonna. Ein Wächter fragte den Maskenlosen ganz unerwartet: «Haben Sie eine Maskenbefreiung?» Ich bejahte freundlich, worauf er mich durchließ und einen schönen Tag wünschte.
Wunderbar, und doch: gäbe es noch mehr als lediglich Befreiung von Masken.
Der große, sehr bedeutende und daher, wie gewöhnlich, fast unbekannte Dichter Fercher von Steinwand (1828–1902) verfasste das sehr zeitgemäße Gedicht «In der Wüste». Es lautet:

Gepflanzt vom bittersten Verhängnis
In eine herzensarme Zeit,
Erscheint dein Leben der Bedrängnis,
Dein Geist dem Untergang geweiht.

Mit nichten! – In des Leides Wüste
Erhebe du den Wanderstab
Und schlage an die Felsenbrüste
Und manche Quelle perlt herab!

Du denke tapfer fortzuringen,
Solang’s in deiner Seele glüht,
Die reinsten Hochgefühle dringen
Aus einem kämpfenden Gemüt.

Alfred Jarry war ein großer Diagnostiker unserer bedrängten Zeit, Fercher von Steinwand einer ihrer großen Therapeuten.

Thomas Meyer