Editorial, News

Spirituelles Analphabetentum

Anmerkungen zu einer Anne-Frank Ausstellung in Schwyz

 

Kürzlich besuchte ich mit meinem Sohn das Historische Museum in Schwyz, im schweizerischen Urkanton (neben Uri und Unterwalden). Mein erster Besuch in dem vom Gebirge der Mythen und dem Mythos – oder der Wirklichkeit ? – der Urschweiz umgebenen Ort.
Schon beim Ticketschalter erkundigte ich mich mit einer gewissen Neugier, ob denn auch der Tell zu sehen sei.
In fast herablassendem Ton meinte die Verkäuferin: «Ach, wissen Sie, der wird heute allgemein als Mythos betrachtet.» Ich machte keinen Einwand. Hätte ich sagen sollen: Rudolf Steiner war anderer Ansicht? Von Tell sagte Steiner einmal zum Geschichtslehrer Walter Johannes Stein, «dass er wirklich gelebt habe und dass die Apfelschussszene eine Art Einweihungsvorgang gewesen sei.» Dies ist natürlich nicht die Ansicht von jüngeren Schweizer Schriftstellern wie Frisch, Dürrenmatt oder Muschg. Diese betrieben die besagte Mythenbildung, die längst in Schulbüchern Eingang gefunden hat.
Ein kurzer Gang durch die zwei Stockwerke ergab keine einzige Erwähnung Tells, wohl aber, im Zusammenhang mit der Entwicklung des städtischen Bildungswesens, mehrere solche von Aristoteles und Thomas von Aquin. Verglichen mit diesen anerkannten Geistesgrößen hat Steiner heute in den Augen der meisten Zeitgenossen nur problematischen Mythenrang.

Im Untergeschoss ist bis zum Ende des Jahres eine sorgfältig ausgestattete Anne-Frank-Ausstellung zu sehen. Sie legt Wert auf die Tatsache, dass das die Herzen der Menschen erobernde Tagebuch Anne Franks von der Schweiz aus (Basel) seine Reise angetreten hatte, durch die hingebungsvolle Arbeit des Vaters Otto Frank, dem einzigen Überlebenden der Frank-Familie. Das Tagebuch der Anne Frank gehört neben der Bibel und vielleicht Harry Potter zu den meist übersetzten Büchern der Welt. Otto Frank hatte vor seinem Tod einen Fonds gestiftet, dem sein Neffe Buddy Elias (1925–2015), der Cousin von Anne Frank – bis zu seinem Tod vor sieben Jahren – vorgestanden hatte. Anne Frank und Buddy Elias (im Tagebuch Bernd genannt) verband eine schöne Jugendfreundschaft, die auch durch Aufenthalte der Franks vor dem Krieg in der Schweiz gepflegt wurde, was später nur mehr durch Briefe möglich war. Zahlreiche, zum Teil unbekannte Bilder und Dokumente füllen die Ausstellungsräume, ja sogar eine Rekonstruktion des schlichten fensterlosen Hinterhaus-Wohnraums der Familie ist vorhanden.
Es fehlt der Hinweis auf die bedeutsame Begegnung von Cousin und ehemaliger Cousine im Jahre 1995, ebenfalls in der Schweiz. Der damals 70jährige Elias begegnete der wiederverkörperten Cousine in Gestalt von Barbro Karlén (1954–2022). Die einstige Jugendfreundschaft wurde bis zu dessen Tod vor sieben Jahren beidseitig in modifizierter Form wie selbstverständlich fortgesetzt.

Das Photo zeigt Elias mit Karlén im Jahre 1997 bei einer privaten Lesung aus Karléns Buch … Und die Wölfe heulten… Seine offene Akzeptanz der Tatsache der Wiederverkörperung brachte ihn in schmerzliche Konflikte, doch distanzierte er sich diesbezüglich nie.
Ohne Reinkarnation erscheint das Menschenleben sinnleer. Gerade ein Leben wie das von Anne Frank – und selbstverständlich Millionen anderer – schreit geradezu nach einem höheren Sinn. Dass dieser in diesem Falle tatsächlich erschienen ist, blieb den meisten Zeitgenossen bisher verborgen. Der Mensch der Gegenwart ist gewöhnlich ein Analphabet spiritueller Tatsachen. Von solchem Analphabetismus war die Frank-Ausstellung, wie auch die der Schweizer Geschichte naturgemäß geprägt.
Lernen wir die spirituellen Tatsachen buchstabieren. Werden wir Buchstabierer der spirituellen Realität! Das wollte hier versucht werden.

Thomas Meyer

P.S.: Beim Verlassen der Ausstellung erstand ich meinem Sohn eine kleine Tellen-Armbrust, die immerhin real war.